Edith Brünnler
Original Fortschritt
Heimat - Rap
Ich war letztens mal auf ’nem Poetry Slam.
Sie sprachen sehr schnell und sehr intellektuell.
Der Applaus trennt dort die Schlechten von den Guten
und das alles findet statt innerhalb von sechs Minuten.
Sie sprachen über Hinterhöfe, Einsamkeit und Suff,
über Drogen, Politik, über Facebook und den Puff,
über Literatur: Goethe, Schiller und dergleichen.
Ich war ganz erstaunt, wofür sechs Minuten reichen.
Die Gier der Konzerne und die Eitelkeit der Banken,
Armut ohne Grenzen, Lobbyismus ohne Schranken,
die Zerstörung der Natur und wie die Welt sich wandelt – das alles wird in sechs Minuten abgehandelt.
Es gibt kein Tabu, aber wie das so ist,
ein Thema hab ich auf dem Slam am Ende doch vermisst.
Ob Heimat wohl zu spießig ist, hab ich mir überlegt,
oder ob es die Menschen schon lang nicht mehr bewegt.
Doch dann wurde mir klar, hier mussten sie passen,
denn Heimat ist in sechs Minuten einfach nicht zu fassen.
Stadt – Land – Fluss
»Wo seid ihr eigentlich spazieren gegangen in deiner Kind-heit? Zwischen Industrieschloten?« Sven grinst mich provozierend an.»Natürlich nicht! Ich war mit meinem Großvater oft auf dem Hauptfriedhof.« Im selben Augenblick bereue ich, dass ich das gesagt habe.»Auf dem Hauptfriedhof?«, gluckst Sven. »Was war das schönste Er lebnis in Ihrer Kindheit? Ich war mit meinem Großvater auf dem Hauptfriedhof!« Alle lachen.»Er hat immer gesagt, da sei die Luft am besten – wegen der vielen alten Bäume«, sage ich entschuldigend.»Mein Gott, muss das trostlos gewesen sein.« Christine sieht mich mitleidig an.»Überhaupt nicht! Ich habe mir Geschichten zu den Namen auf den Grabsteinen ausgedacht.«»Das meinte ich mit trostlos«, sagt sie.Sven beginnt von seiner Jugend an der Nordsee zu erzählen, von Sturmböen, Möwengeschrei und Krabbenfischern und von langen Spaziergängen auf dem Deich.»Das stelle ich mir herrlich vor!« Johannas Augen strahlen vor Begeisterung.»Wir waren manchmal am Rhein und haben den Schiffen nach gesehen«, werfe ich ein. »Sie waren oft so schwer mit Kies oder Sand beladen, dass das Wasser fast über die Bordwand schwappte. Wenn die Abendsonne dann den Fluss rot färbte ...«»Ich glaube, um das schön zu finden, muss man damit groß geworden sein«, unterbricht mich Johanna. »Kieskähne auf rotem Wasser zwischen qualmenden Schornsteinen – das taugt doch allenfalls als Cover für eine Horror-DVD. Wenn ich dagegen an unsere Berge denke! Jedes Jahr am Muttertag habe ich auf der
12Wiese am Hang einen Strauß Wildblumen gepflückt. Wie die geduftet haben! Ein schöneres Geschenk hätte ich meiner Mutter gar nicht machen können.«Da kann ich mit meinen drei Geranienstöcken vom Wochenmarkt wieder einmal nicht mithalten, obwohl sich meine Mutter darüber bestimmt genauso gefreut hat.»Überhaupt, diese Blütenpracht überall«, fährt sie fort, »und die frischen Quellen, die aus den Felsen sprudeln. Das ist Heimat.«»Habt Ihr im Herbst auch immer Kastanien gesammelt und mit Streichhölzern kleine Tiere daraus gebastelt?«, fragt Christine.»Ja!« Ich schreie es fast heraus. Endlich kann ich mit etwas aufwarten, das anerkannt ist, das sozusagen Heimatwert besitzt. »Bei uns waren es Rehe und Hirsche mit Streichholzgeweihen und für die kleinen Frischlinge haben wir schmale Streifen von der Kasta nienhaut abgezogen.«»Du hast mit Kastanien gespielt?«, fragt Christine verblüfft. »Aber die müssen ja ganz schwarz gewesen sein von all den Ab-gasen. Hat deine Mutter die vorher abgewaschen?«»Schrecklich, wenn man so aufwachsen muss.« Sven runzelt die Stirn. »Da kann man wirklich keine Heimatgefühle entwickeln. Also wenn ich hier nicht arbeiten müsste, ich wäre schon lange weg.«»Ich nicht«, sage ich. »Ich würde bleiben.«Sie sehen mich ungläubig an. Soll ich ihnen erklären, dass die Fabriken zu meiner Stadt gehören wie die Parks mit ihren Blumenrabatten, wie die Konzert-muschel und das Theater, wie die großen Kastanienbäume, deren Laub im Herbst unter meinen Füßen raschelt, wie das Glockengeläut der alten Kirchen, wie die Spielplätze und die Badeseen? Soll ich ihnen sagen, dass ich sehr wohl weiß, dass diese Stadt nicht nur schöne Seiten hat; dass ich die zugeklebten Fensterscheiben in den Einkaufsstraßen sehe, auf denen »Eine Stadt im Aufbruch« steht und dass ich manchmal nicht so recht daran glauben kann; dass es mich traurig macht, wenn sich Ein-Euro-Shops mit Brotläden abwechseln und zerrissene Schlafsäcke in verwilderten Grünanlagen von Armut und Obdachlosigkeit zeugen. Würden sie verstehen, dass ich diese Stadt trotzdem mag? Vielleicht weil sie ein bisschen so ist wie ich – mit ihren guten und ihren schlechten Seiten und mit ihrem ewigen Kampf für und gegen sich selbst.Was wäre das denn schon in den Augen von Johanna, Christine und Sven oder wie sie alle heißen gegen frische Luft, klares Quell-wasser und Blumenwiesen? Nichts.Aber für mich – für mich ist es Heimat. Ich glaube, ich muss doch mit ihnen darüber reden. Das bin ich mir und meiner Stadt einfach schuldig.
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